Der Roisdorfer Adventskranz
Sinnbild der endzeitlichen Gottesstadt
Einen Adventskranz aufzustellen oder aufzuhängen, ist wohl in fast jeder katholischen oder evangelischen Kirche in Deutschland üblich. Der Adventskranz in der Roisdorfer Pfarrkirche St. Sebastian stellt jedoch etwas ganz besonderes dar - obwohl er sich in seiner Form kaum von anderen Adventskränzen unterscheiden dürfte.
Entscheidend ist vielmehr seine überdimensional erscheinende Größe sowie die Platzierung an prominentem Ort, nämlich über dem Altar schwebend, was in den Pfarrkirchen der näheren und wohl auch weiteren Umgebung Roisdorfs so nicht zu finden ist. Größe und Ort des Kranzes aber weisen auf einen Sinngehalt des Advents hin, den andere Kränze weniger deutlich vermitteln. Um ihn zu erfassen, ist es notwendig, ein wenig auf die theologische Deutung der Adventszeit, der Vorbereitungszeit auf das Fest der Geburt Christi, sowie auf die Entwicklung des Adventskranzes einzugehen.
Ihre liturgische Prägung erhält die Adventszeit bekanntlich vor allem durch den Bußgedanken, was seinen Ausdruck in der – gleich der vorösterlichen Bußzeit – violetten Farbe der Messgewänder, im Fehlen des Gloria der Messe und in der sog. „geschlossenen Zeit“ (Verzicht auf öffentliche Lustbarkeiten) findet.
Ein strenger Bußgedanke wie in der vorösterlichen Bußzeit setzte sich aber nie völlig durch, da gleichzeitig Vorfreude herrscht auf das kommende Fest und es eine Reihe von Festen beliebter Heiliger (Barbara, Nikolaus, Luzia etc.) gibt. Den Mittadvent (Sonntag Gaudete) wie Mittfasten (Sonntag Laetare) prägt als liturgische Farbe ein Rosa, an dem diese Vorfreude das Violett mildert. Es geht auch nicht allein um Buße, vielmehr birgt die Adventszeit, wie jede Festzeit des Christusjahres, eine dreifache Sinnschicht:
Zum einen ist dies die „Memoria“ (Gedächtnis), also die Erinnerung an ein einmaliges Geschehen in der Vergangenheit, hier: das jahrtausendelange Warten des Heilsvolkes der Juden auf den Messias, das für uns Christen mit der Geburt Christi beendet wurde. Des weiteren ist es das „Mysterium“ (Geheimnis), das Heilsgeschehen hier und heute, hier: Der Christ wartet auf das Kommen des Messias, das für ihn in der Weise des Empfangs des Sakramentes am Fest der Geburt Jesu Christi Gegenwart wird. Hinzu kommt als drittes die „Prophetia“ (Voraussage), der Hinweis auf die Vollendung, hier: Der Christ erwartet mit dem Gottesvolk und der ganzen Menschheit den Advent des christlichen Lebens, die „zweite Weihnacht“, das endgültige Kommen des Herrn in der Vollendung der Zeit, wie es in der Geheimen Offenbarung auch als Herabkunft der endzeitlichen Gottesstadt beschrieben wird.
Wie kein anderes Symbol steht der Adventskranz heute für die Adventszeit. So selbstverständlich er uns heute erscheint, so ist der Brauch des Adventskranzes doch ein vergleichsweise noch sehr junger und spezifisch deutscher, auch wenn er heute in weiten Teilen Europas beliebt ist.
Als „Erfinder“ des Adventskranzes gilt Johann Hinrich Wichern (1808-1881). Der Hamburger evangelische Theologe und Erzieher nahm sich einiger Kinder an, die in großer Armut lebten. Er gründete in Horn bei Hamburg das heute noch bestehende sog. „Rauhe Haus“, ein altes Bauernhaus, wo die Kinder betreut und ausgebildet wurden. Da diese während der Adventszeit immer wieder fragten, wann denn endlich Weihnachten sei, baute Wichern 1839 aus einem alten Wagenrad einen Leuchter, den er mit 19 kleinen roten und 4 großen weißen Kerzen bestückte und unter die Decke des Betsaals hängte. Jeden Tag der Adventszeit wurde nun eine kleine Kerze mehr angezündet, an den Sonntagen des Advents eine große Kerze. „Auf dem Kronleuchter des Betsaals mehrt sich täglich die Zahl der Lichter, die der Zahl der Adventstage entsprechen, bis am Schluß des Advents die ganze Lichterkrone strahlt und immer heller widerstrahlt in den Herzen der Kinder“ – so beschrieb Wichern selbst sein Anliegen. Das hölzerne Rad wurde einige Jahre später (vermutlich 1860) mit Tannengrün umwunden. In dieser Form führte Wichern damals den Brauch des Adventskranzes im Waisenhaus Berlin-Tegel ein.
Wie sich nun von dort aus die weitere Entwicklung des Adventskranzes vollzog, darüber sind sich die Volkskundler nicht einig. Die Zahl der 23 bis maximal 28 Kerzen verringerte sich jedenfalls auf die vier, welche die Sonntage bezeichneten. Dies ist erstmals für 1911 im schlesischen Riesengebirge belegt: In einer Baude (Gebirgshütte) fügte man Tannenzweige zu einem Kranz und verwendete vier sog. "Hindenburglichter" als Kerzenersatz. Der Brauch des vierkerzigen Adventskranzes verbreitete sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rasch in Deutschland: Der Herkunft entsprechend, ging die Verbreitung des Lichterkranzes zunächst von den protestantischen Städten aus, hier vor allem von den Gemeindehäusern, Kinderheimen und Schulen und er zog – von Norden nach Süden fortschreitend – bald nicht nur in die Wohnstuben der Familien, sondern auch in die Kirchen beider Konfessionen ein. 1925 ist erstmals ein Adventskranz in einer katholischen Kölner Kirche bezeugt. In Bayern und Österreich wurde der Brauch dagegen erst nach 1930 übernommen, zuerst in den Städten und dann sehr zögernd auch auf dem Land. In den katholischen Gegenden wurde es dabei üblich, drei violette und eine rosa gefärbte Kerze, die am 3. Adventsonntag, dem Freudensonntag Gaudete entzündet wurde, zu benutzen, wobei sich diese Farbsymbolik natürlich nach den liturgischen Farben richtete.
Verbreitung erfuhr der Adventskranz aber auch im Zuge der „Lichter-Romantik“ der deutschen Jugendbewegung. In der Zeit des Nationalsozialismus versuchte man, ihm einen nichtchristlichen Sinn zu geben: man behauptete, dass es bereits in der Germanenzeit einen „Lichterkranz mit mehreren Kienleuchten“ gegeben habe und wies auf skandinavische Jul-Bräuche zur Wintersonnenwende hin. Hierfür lassen sich aber weder schriftliche noch archäologische Quellen anführen, so dass dies getrost unter neuheidnischem Kitsch verbucht werden kann.
Der Brauch des Adventskranzes fand in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland weitere Verbreitung und ist inzwischen, wie erwähnt, auch in viele andere Länder übernommen worden. Im ostkirchlichen Bereich finden sich teilweise Kränze mit 6 Kerzen, entsprechend der dort üblichen längeren Adventszeit.
Man entwickelte sogar eine kirchliche Segensformel für die häuslichen Adventskränze. So heißt es im Benediktionale: „Licht weist den Weg, vertreibt die Angst und fördert Gemeinschaft. Licht ist ein Zeichen für Jesus Christus, das Licht der Welt ... Der grüne Kranz bedeutet Leben und Gemeinschaft. Der Adventskranz ist ein Zeichen der Hoffnung, dass nicht Dunkel und Tod, sondern Licht und Leben siegen werden.“
Damit sind wir bei der Frage der Symbolik des Adventskranzes, für die es unterschiedliche und meist wohl auch nachträgliche Deutungen gibt. Wesentliche Symbolik ist die Zunahme des Lichts als Ausdruck der steigenden Erwartung auf die Geburt von Jesus Christus hin, der als „Licht der Welt“ bezeichnet wird. Die Verwendung des Adventskranzes ähnelt dabei der des achtarmigen Chanukkaleuchters, auf dem während des jüdischen Chanukkafestes, das im November oder Dezember stattfindet, von Tag zu Tag jeweils eine Kerze mehr angezündet wird.
Die Kreisform kann als Symbol des Erdkreises mit seinen vier Himmelsrichtungen gelten, der auf das Kommen des Erlösers wartet. Der Kreis symbolisiert für andere aber auch das mit der Auferstehung gegebene ewige Leben. Die immergrünen Zweige, wir kennen sie ja auch beim Weihnachtsbaum, sind Zeichen der Hoffnung auf neues Licht und neues Leben.
„Memoria“ und auch „Mysterium“ der Adventszeit sind bei diesen Deutungen angesprochen. Wie sieht es aber mit dem Aspekt der „Prophetia“, der Voraussage, dem Hinweis auf die Vollendung aus? Er fehlt in den gängigen Erklärungen, doch liegt er eigentlich auf der Hand: Man kann dabei auf eine Entwicklungslinie verwiesen, die weit vor diese Zeit des Pastors Wichern zurückführt, nämlich auf die mittelalterlichen Radleuchter des 11. und 12. Jahrhunderts.
Von diesen haben sich in Deutschland vier Exemplare erhalten: Der Bischof Azelin zugeschriebene Leuchter in der Antoniuskirche zu Hildesheim, der Leuchter des Bischofs Hezilo im Hildesheimer Dom, der Leuchter in der Pfarrkirche Großcomburg, nahe Schwäbisch Hall-Steinbach, und der von Kaiser Friedrich I. Barbarossa gestiftete Leuchter im Dom zu Aachen.
Alle diese in der Form eines Speichenrades von der Decke hängenden, monumentalen Kerzenleuchter – aus vergoldetem Kupfer gefertigt mit einem Durchmesser von bis zu 6 Metern – sind als Mauerkranz mit zwölf oder 24 Türmen und Toren gestaltet - nur der Aachener hat aus Rücksicht auf die Achteckform der Kirche 16 Türme.
Wenn auch der ursprüngliche Edelsteinbesatz sowie Figuren von Engeln, Aposteln und Propheten heute meist verloren ist, so erweisen sie sich damit doch als Abbilder des „Himmlischen Jerusalem“, wie es in der Offenbarung des Johannes (Offb 21,1-27) beschrieben wird:
„Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat.
Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. …
Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels. Im Osten hat die Stadt drei Tore und im Norden drei Tore und im Süden drei Tore und im Westen drei Tore. Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes. …“
Ganz wesentlich erscheint bei den Radleuchtern wie in der apokalyptischen Vision des Johannes die Symbolik der Zahl Zwölf, welche das Judentum von den Astrologen der benachbarten Hochkulturen übernommen hatte – wie im alten Ägypten und in Babylon so galt auch in Jerusalem die Zwölf als Zahl der umfassenden himmlischen Ordnung. Das Christentum führte dies weiter: Als Verbindung der Zahl Drei als der Zahl Gottes – Vater, Sohn und Heiliger Geist – und der Zahl Vier der Schöpfung – 4 Himmelsrichtungen, 4 Jahreszeiten etc. – finden der Schöpfer und seine Schöpfung in Harmonie zusammen. Bei der Gestaltung der romanischen Radleuchter ist die Zwölf oder deren Mehrfaches in der Anzahl der Speichen des Rades, der Tore und Türme etc. vertreten. Den mittelalterlichen Menschen mussten die Leuchter somit wie eine Vision des Himmlischen Jerusalem, der endzeitlichen Gottesstadt, erscheinen, deren Ankunft („adventus“) sie ganz real ersehnten.
Im 19. Jahrhundert wurden im Geist der Neuromanik zahlreiche Radleuchter als Kopien oder Nachschöpfungen mittelalterlicher Leuchter angefertigt. Als beliebiges Beispiel sei – bereits aus dem 20. Jahrhundert – auf den Radleuchter der Bonner Elisabethkirche (1910ff.) verwiesen. Aber auch und gerade in jüngerer Zeit wurden moderne Radleuchter mit ausdrücklichem Bezug auf die traditionelle „Jerusalem“-Symbolik geschaffen, so z.B.1986 in Groß-St. Martin in Köln und 1999 in der Lippoldsberger Klosterkirche.
Die Symbolik des „Himmlischen Jerusalem“ gehörte eben auch in nachmittelalterlicher Zeit und bis heute zum theologischen Bildungsgut aller Geistlichen gleich welcher Konfession. Wenn nun Pastor Johann Heinrich Wichern im „Rauhen Haus“ ein als Leuchter dienendes hölzernes Wagenrad an die Betsaaldecke hängte, so ist der Bezug zu den mittelalterlichen Radleuchtern mit ihrer spezifisch „adventlichen“ Symbolik gleichfalls offenkundig. Die Zahl der 24 Kerzen, die meist für den Adventskranz seiner Tradition gewählt wird, lässt sich als Verdoppelung der Zwölfzahl erklären – und nicht bloß als die Zahl der Tage im Dezember bis Weihnachten, die ja nicht mit der variierenden Zahl der Tage des Advents übereinstimmt. Auch die Vierzahl der Lichter, die heute allgemein dem Adventskranz aufgesteckt wird, lässt sich auf die Zwölfzahl beziehen und als deren Drittelung deuten.
Bedenkt man dies, so erscheint der Roisdorfer Adventskranz in ganz neuem Licht. Der mächtige Kranz mit 2 ½ Metern Durchmesser wurde spätestens von Pastor Matthias Ossenbrink in der Mitte der 1950er Jahre im Chorbereich noch der alten Pfarrkirche aufgehängt – wann genau dies geschah, ist nicht mehr bekannt. Form, Ausmaße und Positionierung im Chor nehmen jedenfalls die der mittelalterlichen Radleuchter auf und machen damit deutlich, dass auch hier die Vision des „Himmlischen Jerusalem“ vor Augen geführt wird.
Als man 1974 in die neu erbaute heutige Pfarrkirche St. Sebastian überwechselte, nahm man selbstverständlich auch den großen Adventskranz mit, der ebenfalls direkt beim Altar platziert wurde, an einer Halterung, die eigentlich für die Befestigung einer Kreuzigungsgruppe gedacht war. Jedes Jahr übernahm eine eigene „Adventskranzmannschaft“ die Anbringung des Kranzes. Nach zweijähriger Unterbrechung, die beinahe das "Aus" für den Roisdorfer Adventskranz bedeutet hätte, wurde der Kranz in der Adventszeit 2007 erneut aufgehängt - selbstverständlich gemäß der katholischen Tradition mit drei violetten und einer rosafarbene Kerze bestückt.
Der prophetische Gehalt der Adventszeit kann seither in Roisdorf wieder in besonders markanter Weise erlebt werden:
„Der Advent lädt uns ein, unseren Blick auf das ,Himmlische Jerusalem‘ zu richten, das das endgültige Ziel unserer irdischen Pilgerreise ist.“
(Papst Benedikt XVI. in seiner Ansprache zum „Angelus“ am 2. Adventssonntag 2006)
Adventskranz 1961
Adventskranz 2007